Zeitzeugenbericht von Prof. Dr. Erich Dreyer, 2009
Erich Dreyer, ist der Sohn von Heinrich und Emma Dreyer, damalige Eigentümer der Häuslerei Nr. 18, die auch sein Geburtshaus war. Der nachfolgende Aufsatz wurde im Rahmen seiner Autobiografie verfasst. Die Episoden wurde von ihm selbst erlebt. Nachnamen von handelnden Personen sind aus rechtlichen Gründen verfälscht.
Kindheit und Schule
In Nordmecklenburg, unweit der Ostseeküste, verbindet [1930-er Jahre] eine Asphaltchaussee die Städte Wismar und Rostock, die in der NS-Zeit den Beinamen "Seestadt" erhalten haben. An der Chaussee, zwischen den beiden Städtchen Bad Doberan und Kröpelin liegt die kleine 400-Seelen-Gemeinde Reddelich. In der Häuslerei 18, direkt an der Chaussee gelegen, befindet sich die Postagentur des Ortes, die von dem Ehepaar Dreger geleitet oder besser gesagt, betreut wird. Die Postagentur, das ist ein Zimmer in der Häuslerei, die Eigentum der Familie Dreger ist und die Mutter Dreger von ihren Eltern geerbt hat. Ein Schreibtischveteran für den "Postmeister”, ein weiterer Tisch für die zwei Postzusteller und ein dritter für die Abfertigung der Kunden, stellen fast das ganze Inventar der Post. Doch nein, die Technik wurde vergessen: Ein Wandtelefon mit Kurbel und eine Paketwaage mit Eisen- und Messinggewichten vervollständigen das Inventar. Die Postagentur arbeitet neben Reddelich auch noch für die Orte Steffenshagen, Glashagen und Retschow. Es ist die Aufgabe der beiden Zusteller, die Einwohner dieser Orte täglich mit Post und Zeitungen zu versorgen. Zweimal am Tag bringt die Eisenbahn Post und Pakete und nimmt wieder welche mit.
Vom Postzimmer aus gelangt man in das Wohnzimmer der Familie. In der Tür befindet sich ein kleines Guckfenster, verdeckt mit einem Tüchlein, so dass man aus dem Wohnzimmer immer einen heimlichen Blick auf das Geschehen in der Poststube werfen kann. Die Haustür ist die Tür zur Post. Die Mitglieder der Familie benutzen privat fast nur die Hintertür, die in einen kleinen Garten führt. Das Leben der Familie Dreger spielt sich teilweise auch in der Poststube ab. Amtlich ist die Post bis 18:00 Uhr geöffnet. Aber im Winter verirrt sich nach Einbruch der Dunkelheit kaum ein Kunde dorthin. Für die Dregers ein willkommener Anlass, um die sogenannte "Schummerstunde" in der Poststube zu verbringen. Dort wird auf Staatskosten geheizt, und ein großer Kachelofen verbreitet wohlige Wärme und lädt zum Verweilen ein.
Gleich hinter dem Haus fährt die Eisenbahn! Sie verbindet ebenfalls Rostock und Wismar, so dass die Reddelicher sowohl auf der Landstraße oder mit der Eisenbahn in beide Richtungen fahren können. Aber in den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen unsere Geschichte beginnt, sind beide Städte von Reddelich so weit entfernt, wie heute Rostock von München. Die Eisenbahn fährt unmittelbar an der Häuslerei vorbei, sodass die Tassen im Küchenschrank klappern. Beide Verkehrsadern nähern sich an dieser Stelle bis auf ca. 50 Meter einander an. Im Jahre 1928 ist das aber nicht weiter schlimm, denn weder die Straße noch der Schienenstrang sind übermäßig befahren, sodass der Verkehrslärm gering ist. Straßenfahrzeuge und Eisenbahn bringen sogar etwas Abwechslung in das sonst doch recht eintönige Dorfleben. Darüber hinaus braucht man auch keine Uhr, denn die durchfahrenden Züge ersetzen sie. Mutter Dreger steht auf, wenn der "Siebenuhrzug" kommt. Der "Zwölfuhrzug" ruft zum Mittagessen und mit dem "Halbzehnuhrzug" geht man zu Bett.
Mit dem kärglichen Gehalt eines Postagenten kann man keine großen Sprünge machen, und so geht der Hausherr noch einem zweiten Gewerbe nach. Er ist Musiker, hat eine ordentliche Lehre als solcher absolviert. Er bläst die Klarinette und das Saxophon und kennt sich auch auf dem Schlagzeug aus. Dreimal in der Woche ist auf dem Tempelberg in Bad Doberan Tanz, und der Schlagzeuger ist unser Postagent aus Reddelich. Auch die Hausfrau trägt zum Unterhalt bei. Ihre Aufgabe ist es, zwei Ziegen zu füttern und zu melken, ein Schwein zu mästen und eine kleine Hühnerschar zu betreuen. Das bringt Milch, Fleisch und Eier, die man nicht zu kaufen braucht. Das Futter für das Vieh wird auf eigenem Land und zum Teil auf Pachtflächen angebaut und geerntet, so dass alles recht billig erzeugt wird. Es wird überhaupt einfach und bescheiden gelebt, der Tag ist mit Arbeit ausgefüllt und niemand sieht auf die Uhr. Den Begriff "Achtstundentag" kennt man nicht. Im Sommer sind die Abende kurz, denn bis zum Dunkelwerden gibt es immer noch zu tun. Im Winter ist mehr Muße angesagt, denn die frühe Nacht setzt dem Betätigungsdrang natürliche Grenzen, zumal das elektrische Licht teuer ist und gespart werden muss.
In dieses ländliche Milieu hinein wird im Juli 1928 den Postleuten ein zweiter Sohn geboren. Er ist sozusagen ein Nachkömmling, denn der größere Bruder ist schon im zehnten Lebensjahr. Die Eltern geben ihrem neuen Erdenbürger den Namen Erich, Karl, Werner, alles alte deutsche Namen. Ende der 20-er Jahre, das ist eine schwere Zeit in Deutschland! Die Weltwirtschaftskrise wirft bereits ihre Schatten voraus. Überall ist Schmalhans Küchenmeister. Aber Mecklenburg ist eben doch "weit vom Schuss", und so überstehen unsere Postleute dank ihrer Anstellung beim Staat und dank ihrer kleinen Wirtschaft auch diese schwere Zeit, ohne dass ein Familienmitglied irgendwie Schaden erleidet.
Unser Erich merkt davon natürlich noch nichts. Wohlbehütet verbringt er seine Kindheit und beginnt erst in Zusammenhängen zu denken, als die braunen Machthaber bereits in Deutschland marschieren. Wie viele andere Menschen auch, begrüßen die Postleute dieses Dritte Reich, schafft es doch endlich wieder Ordnung im Lande! Und es dauert denn auch gar nicht lange, und der Postmeister trägt auch das runde Abzeichen mit dem Hakenkreuz. Die Post wünschte es, und deren Wunsch ist wie ein Befehl!
Als Postvorsteher gehört man im Dorf natürlich zu den sogenannten "besseren" Leuten, heute würde man sagen, zu den Privilegierten. Im Bunde mit dem Lehrer, dem Bahnhofsvorstand, dem Bürgermeister, dem Leiter der Raiffeisengenossenschaft, dem Bäckermeister und den acht Großbauern gehören auch die Dregers zu dieser "Elite". Der "Postmeister" wird dazu ausersehen, die NS-Volkswohlfahrt des Dorfes zu leiten und nennt sich jetzt auch Ortsgruppenamtsleiter. Darüber hinaus ist er Gemeindekassierer, Leiter der Freiwilligen Feuerwehr und Chorleiter des Gesangsvereins. Es ist eben so: Die "Elite" muss die Funktionen unter sich aufteilen! Schließlich zieht Vater Dreger auch noch die braune Uniform an. Er gehört der SA, den Sturmabteilungen, im benachbarten Bad Doberan an, und muss abends einmal in der Woche zum "Dienst". Mit dem Fahrrad fahren die Gleichgesinnten in die Stadt und kommen spät am Abend zurück.
Für den kleinen Erich ist der uniformierte Vater natürlich eine Respektsperson, und mit gleichaltrigen Buben spielt er auch SA und macht auch "Dienst".
In Reddelich gibt es nur eine einklassige Volksschule, das heißt, dass alle Kinder vom ersten bis achten Schuljahr in einem Klassenraum von Lehrer Mahn unterrichtet werden. Für die Kinder der "Dorfelite" ist das natürlich nicht standesgemäß! Man lässt die Sprösslinge deshalb nur für die ersten vier Jahre auf der Dorfschule. Ab dem fünften Schuljahr werden sie dann in die Stadtschule von Bad Doberan eingeschult. Das kostet natürlich Schulgeld, aber die Kinder sollen ja schließlich "mal was Besseres werden". Die neue Schule ist achtklassig, so dass jedes Schuljahr getrennt arbeitet, einen eigenen Klassenraum und einen Klassenlehrer hat. Natürlich muss auch unser Erich diesen Wechsel vollziehen. Jetzt zehnjährig, erhält er ein eigenes Fahrrad und im Verein mit anderen Schülern fährt man täglich je vier Kilometer hin und zurück zur Schule.
Das zehnte Lebensjahr ist aber noch in einer anderen Hinsicht von Bedeutung: Mit dem Erreichen dieses Alters kann man "Pimpf" werden und in die Kinderorganisation der NSDAP, das Deutsche Jungvolk (DJ) eintreten. Natürlich ist auch unser Erich dabei. Von Elternhaus und Schule unterstützt, ordnet er sich willig in die Schar der Uniformträger ein. Der Parteitradition verpflichtet, tragen auch die Pimpfe ein braunes Hemd mit schwarzem Dreieckhalstuch, das durch einen Lederknoten zusammengerafft ist. Dazu eine kurze schwarze Hose. Im Winter kommen dazu noch eine schwarze Überziehbluse und eine gleichfarbige Überfallhose. Jetzt gehört man dazu! Dienst muss man jetzt nicht mehr spielen, Dienst wird nun getan. Die Pimpfe aus mehreren benachbarten Orten bilden einen Landjungzug, und in jedem Ort gibt es eine Jungenschaft. Einmal im Monat ist "Dienst". Zunächst wird marschiert und exerziert, dann gibt es Geländespiele in denen man sogenannte Mutproben ablegen muss und schließlich gibt es auch Schießübungen mit dem Luftgewehr. Natürlich werden auch Schulungen durchgeführt und NS-Dogmen verkündet. Schnell haben auch die neuen Pimpfe gelernt, dass sie "hart wie Kruppstahl, zähl wie Leder und flink wie die Windhunde" zu sein haben. Ebenso lernen sie auch sehr schnell den Vers auf ihre militärische Verpflichtung: "Die Füße bilden einen Winkel von fast neunzig Grad, die Hände liegen an der Hosennaht, Bauch rein, Brust raus, Kinn an die Binde, Blick geradeaus".
Der größere Teil der Pimpfe ist begeistert von dem neuen Lebensabschnitt, der nun für sie begonnen hat. Sie reihen sich willig in die große Schar der Uniformierten ein und tragen mit Stolz ihre Uniform. Nur kurze Zeit vergeht, und auch Erich trägt die rot-weiße Schnur eines Jungenschafts- und den silbernen Winkel eines Hordenführers. Höhepunkte sind häufig stattfindende Aufmärsche in Bad Doberan, zu dessen "Fähnlein" die Pimpfe gehören. Zum Fähnlein gehört auch ein Fanfarenzug, der unseren Erich begeistert. Dort möchte er auch gerne mitmachen. Es fließt wohl auch etwas Musikerblut vom Vater in seinen Adern. Aber vorerst marschiert er als Jungenschaftsführer "in unseren Reihen mit"!
Als Erich sich diesermaßen in die NS-Bewegung eingeordnet, steuert das Dritte Reich bereits auf den Höhepunkt seiner Macht zu. Seine Erfolge werden auch von den Pimpfen mit Anteilnahme verfolgt. Der Anschluss Österreichs an Deutschland, die sogenannte Rückkehr der ehemals "reichsdeutschen" Gebiete wie das Sudetenland, die Einrichtung des tschechischen Protektorats und die Forderung nach Rückgabe der deutschen Kolonien und anderer Gebiete werden ohne Einschränkung für richtig befunden und man marschiert dafür. Selbst die Judenverfolgung, von der man im Dorf nur vom Hörensagen erfährt, findet man ganz in Ordnung, denn, so heißt ein weiteres NS-Dogma, "die Juden sind an allem Schuld"! Als schließlich am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg beginnt, finden auch das die meisten Dörfler ganz in Ordnung. Jetzt kann Deutschland sich endlich wieder den ihm zustehenden Platz in der Welt erkämpfen. Und stolz singen die Pimpfe: "Wir werden weiter marschieren, bis alles in Scherben fällt!"
Weniger schön sind einige Konsequenzen, die sich mit Kriegsbeginn bei den Postleuten ergeben: Der Vater und der ältere Bruder Erichs müssen nun die gelbe Uniform mit der feldgrauen vertauschen: Sie werden zur Wehrmacht eingezogen. Erich bleibt mit seiner Mutter allein, die jetzt auch noch die Postarbeit mit erledigen muss. Viele Männer und Jugendliche verlassen das Dorf ebenfalls zu den Soldaten. Die Pimpfe wertet das natürlich auf. Ihre Bedeutung steigt, sie sind jetzt fast die einzigen Uniformierten im Dorf. Ihren Dienst setzen sie fort. Jetzt stehen mehr Kriegsspiele auf dem Plan, denn schließlich sind sie ja die Soldaten der Zukunft und wollen sich gewissenhaft darauf vorbereiten.
Zunächst verläuft ja noch alles geordnet. Zu den gelben Uniformen kommt jetzt das Feldgrau der Soldaten. Der Rundfunk bringt täglich Sondermeldungen über die Kriegserfolge, und als Polen nach drei Wochen bedingungslos kapituliert, befinden sich alle im Siegestaumel und sind davon überzeugt, dass der Krieg nur ein Spaziergang und bald zu Ende ist. Bei Dregers sind sowohl der Vater als auch der Sohn im sogenannten Heimatkriegsgebiet eingesetzt. Sie erhalten noch regelmäßig Urlaub, und so lässt sich der ganze Krieg ertragen. Nach einer Ruhepause geht es ja auch siegreich weiter. Skandinavien wird besetzt, Frankreich besiegt und die Invasion auf England vorbereitet. England wird als letztes besiegt werden, davon sind die Pimpfe fest überzeugt, und begeistert sind sie "… denn wir fahren gegen Engeland"! Da Vater Dreger inzwischen schon auf die fünfzig zugeht, wird er wieder aus der Wehrmacht entlassen und nimmt seine gewohnten Positionen im Dorf wieder ein. Für Dregers normalisiert sich das Leben bereits wieder. Nur Bruder Ulrich ist noch Soldat, aber auch er trägt stolz die feldgraue Uniform.
Anders wird es erst, als die Fanfaren am 22. Juni 1941 verkünden, dass nun der Krieg gegen die Russen beginnt. Wortbrüchig und hinterhältig wollten sie Deutschland überfallen. Aber der Führer ist ihnen nun zuvor gekommen und zahlt es ihnen heim. Erstmals ist auch Vater Dreger skeptisch! Ob das gut geht? Schließlich war er im Ersten Weltkrieg ja auch Soldat und in Russland. Damals konnte man den Krieg gegen das riesige russische Land auch nicht gewinnen. Ob sich der Adolf jetzt nicht übernommen hat? Sorge zieht ein, zumal Sohn Ulrich auch im Osten kämpft und die Todesanzeigen in den Zeitungen sprunghaft ansteigen.
Auch im Dorf gibt es die erste Todesnachricht: Otto Auhl, ein Altersgenosse von Bruder Ulrich ist "auf dem Felde der Ehre" gefallen. Mutter Emma berührt das sehr, denn der Otto war oft bei ihnen. Die beiden Jungen haben zusammen gespielt und sind dann auch zusammen zur Schule gegangen. Aber man kann nur hoffen, dass der eigene Sohn den Krieg übersteht.
Mutter Emma hält die Zeit jetzt auch für gekommen, ihren Erich in die Garten- und Feldarbeit einzubeziehen. Bisher hat sie das weitgehend von ihm ferngehalten, aber jetzt soll er mithelfen. Die Postleute haben an mehreren Stellen des Ortes Land: Ein schöner großer Garten umschließt drei Seiten des Hauses. An der vierten Seite liegt der Hof. Von dort hat man Zutritt zu den beiden Ställen, dort findet man auch die Dunggrube und ansonsten ist der Hof die Domäne der Hühnerschar. Beiderseits des Hauses schließen sich noch zwei Ackerstücke an. Auf dem Klosterberg, eine kleine Erhebung an der Straße nach Doberan, haben die Postleute auch noch Pachtland und dazu kommt noch eine Wiese im Torfmoor, unmittelbar am Glashäger Wald. Während auf dem Acker Getreide und Hackfrüchte angebaut werden, liefert die Wiese das Heu.
Das alles will natürlich genutzt, bestellt, gepflegt und geerntet werden. Erichs "Lehrzeit" beginnt nun in der Getreideernte. Vater Dreger mäht mit der Sense, Mutter Emma recht die Garben zusammen und Erich muss es binden. Das geschieht mit Getreidehalmen, die zu einem Bund zusammengefügt werden. Mähbinder haben nur die Großbauern. Ach halt! Es gibt im Dort acht Bauern, viele Büdner (so eine Art Mittelbauer), die Häusler, die über ein eigenes Haus verfügen, und schließlich andere Leute, die bei den bisher genannten zur Miete wohnen. Das sind die, "die nichts haben". Die Bauern besitzen große Ländereien und vier bis sechs Pferde sowie Kühe, Schweine, Schafe, Federvieh usw. Bei den Büdnern wiederholt sich das eine Nummer kleiner. Die Häusler dagegen verfügen nur über wenig Eigen- und Pachtland und haben zumeist nur eine Ziege und ein Schwein im Stall und dazu Federvieh. Die Postleute gehören auch zu den Häuslern, und sie betreiben auch eine solch kleine Landwirtschaft. Das Umackern der Felder, der Abtransport des Erntegutes, das Dreschen des Getreides und weitere Arbeiten, für die man ein Gespann benötigt, besorgen die Bauern und Büdner für sie. Jeder Häusler hat einen ungeschriebenen Vertrag mit einem der Gespannbesitzer, und der führt die notwendigen Arbeiten für ihn aus. Für Dregers besorgt das der Büdner Hameister, der zwei Pferde besitzt und alle notwendigen Fahrzeuge und Ackergeräte.
Erich ist also jetzt beim Getreidebinden. Die Mutter hat ihm die dafür erforderliche Fingerfertigkeit gezeigt und siehe da, bereits nach kurzer Zeit bindet er die Garben fester zusammen, als die Mutter es kann. Geerntet wird Roggen, als Brotgetreide. Ein Teil des selben erhält Bäckermeister Möller, der die Familie mit Brot versorgt. Ein weiterer Teil wird verkauft, um das Einkommen aufzubessern. Für das Mähen benötigt man zwei halbe Tage. Vater Heinrich und Sohn stellen danach die Hocken auf: Immer zwanzig Garben kommen paarweise in eine Hocke. Auch das erlernt Erich schnell. Wenige Wochen später wiederholt sich das Gleiche beim Gemenge. Das ist ein Mischgetreide aus Hafer und Gerste und wird als Viehfutter genutzt. Beim Mähen dieser Getreideart wiederholt sich die Arbeitsteilung. Das Futtergetreide ist aber kürzer als der Roggen, und demzufolge wird wieder eine neue Technik beim Binden angewendet. So wird Erich Schritt für Schritt in die Geheimnisse der bäuerlichen Arbeit eingeführt. Bald kann er alles genau so gut wie die Eltern und wird ihnen zu einer richtigen Hilfe.
Nach der Korn- kommt die Hackfruchternte. Sie ist mit sehr langweiliger und monotoner Arbeit verbunden. Zunächst wird gehackt! Erich steht viele Stunden mit der Mutter auf dem Kartoffelfeld und bearbeitet Reihe für Reihe, bis das Unkraut beseitigt ist. Die Kartoffelernte entschädigt dann für die Plage. Maschinen gibt es dafür noch nicht, so dass in Handarbeit geerntet wird. Dabei helfen mehrere Frauen aus dem Dorf. Sie knien auf Sackschürzen und heben jede einzelne Knolle mit einem Kratzer aus. Die Kartoffeln sammeln sie in Körbe. Das Kartoffelsammeln ist Frauenarbeit! Die Säcke werden am Abend von Büdner Hameister abgefahren. Erich ist jetzt auch "Ausschütter" und "Zubinder". Zeitweilig von Vater Heinrich unterstützt, der zwischendurch aber seinen Postpflichten nachkommen muss. Später ziehen Vater und Sohn dann nochmals auf das Kartoffelfeld, um das Kraut zu verbrennen. Unterwegs sammelt man dazu ein paar Äpfel am Chausseegraben auf und auf dem Feld finden sich noch einige liegengebliebene Knollen. Beide Früchte werden in das brennende Kartoffelfeuer gelegt und bald gibt es Bratäpfel und gebackene Kartoffeln. Das ist romantisch und es macht Spaß.
Im Herbst muss dann noch die Wiese im Torfmoor gemäht werden. Zum ersten Mal darf Erich mit der Sense arbeiten. Dazu leiht Vater bei Nachbar Junghans eine zweite Sense aus. Bereits nach kurzer Zeit hat Erich das auch im Griff: Er mäht bald genauso schnell und gut wie der Vater. In den kommenden Tagen muss der Weg zum Torfmoor wiederholt angetreten werden. Das Heu ist zu wenden, in Haufen zu setzten usw. Man nennt das heuen, oder wir gehen ins Heu. Nachdem das Heu getrocknet wurde, fährt der Büdner es ab, und es wird auf dem Boden des Hauses gelagert, um im Winter als Futter für das Vieh zu dienen. So lernt Erich im Verlaufe eines Jahres die sich jährlich wiederholende bäuerliche Arbeit. Das soll sich später noch auszahlen.
Arbeit in der Landwirtschaft ist schwere Arbeit. Das merkt auch Erich sehr schnell, denn an den ersten Abenden hat er einen ganz schönen Muskelkater. Mutter Emma tröstet ihn und sagt: "Das ist nicht so schlimm, das geht alles wieder weg." Und es stimmt, schon nach wenigen Tagen empfindet er die Arbeit nicht mehr so schwer.
In der Schule werden die Jungen aufgefordert, in der Ernte auch bei den Bauern zu helfen. Es sei sehr wichtig, sagt ihnen Lehrer Kittmann, der gleichzeitig NSDAP-Ortsgruppenleiter in Bad Doberan ist, daß jeder, daß heißt auch jeder Schüler, seinen Beitrag zum Sieg leiste. Für die Schüler sei das in diesen Tagen die Arbeit in der Ernte. Mit Beginn der Ferien meldet Erich sich dann bei Büdner Hameister als Erntehelfer. Mit noch einem weiteren Schüler, Otto Küster, helfen sie bei der Ernte. Kleinere Arbeiten werden ihnen übertragen und sie sind von morgens bis zum Abend tätig. Dabei lernt Erich wieder neue Arbeiten kennen, denn in einer Büdnerei geht es natürlich ganz anders zu, als bei seinen Eltern auf den kleinen Feldern.
Nach Abschluss der Ernte erhalten die beiden Jungens dann auch ihren Lohn: Jeder bekommt 5 Reichsmark, und die Eltern können sich einen halben Zentner Weizen abholen. Ein wahrhaft "fürstlicher Lohn" für sechs Wochen Arbeit!
Auch in der Poststube gibt es jetzt viel zu tun. Fast alle Familien haben Angehörige "im Felde", und so werden täglich viele Feldpostpäckchen ausgeliefert. Da sie nur ein bestimmtes Gewicht haben dürfen, packt man also immer gleich mehrere, und die Postleute schaffen fast täglich einen Sack voll davon an den Postzug. Die Post aus dem Felde wird natürlich ebenso sehnsüchtig erwartet, und so fragen nachmittags viele Familien nach, ob für sie etwas dabei ist. Auch Mutter Emma wartet täglich auf ein Lebenszeichen von Sohn Ulrich, der immer noch im Osten ist. Einer der Postzusteller musste die Postuniform inzwischen auch mit dem Feldgrau vertauschen. Für ihn ist eine Zustellerin eingestellt worden, und erstmals wird in den Dörfern die Post von einer Frau ausgetragen. Mutter Dreger sieht das nun wieder gar nicht so gern, aber die Personalpolitik wird vom Amt Doberan aus gemacht, da hat sie nichts mitzureden. Jetzt ist auch mehr Verkehr auf Straße und Schiene. Fast täglich durchfahren Wehrmachtskolonnen das Dorf und auf der Eisenbahn sind zunehmend mehr Transporte zu sehen, die Panzer, Kanonen und anderes Wehrmachtsgut in beide Richtungen transportieren. Die Ordnung gerät fast aus den Fugen, denn jetzt muss Mutter Emma immer erst gucken, was für ein Zug vorbeifährt, bevor sie die Uhr danach stellt.
Die Stadt Rostock ist jetzt auch mehrfach Luftangriffen ausgesetzt. Besonders sind es wohl die Heinkel-Flugzeugwerke in Marienehe, die das Ziel der Angriffe sind. In Reddelich wird kein Luftalarm ausgelöst, das hält man offenbar nicht für nötig. Die Dörfler hören aber die Sirenen aus Doberan und sind damit gewarnt. Mit seinen Eltern beobachtet Erich mehrfach das "Schauspiel" am Himmel. Scheinwerfer, die die Angreifer suchen und explodierende Flak-Granaten, die als kleine Wölkchen sichtbar sind. Vater Heinrich, der ja kriegserfahren ist, hat seine Leute instruiert: Wenn es gefährlich wird, legen wir uns in den Chausseegraben, dort ist es am sichersten. Es kommt aber nicht dazu, denn unser Dorf wird vorerst vom Krieg verschont.
Erstmals erfährt Erich in dieser Kriegszeit auch davon, dass es im Dorf Kommunisten gibt. Das ist neu für ihn! Kommunisten, dass sind doch schlechte Menschen. Sie wollen alles verändern, alles anders machen. Sie wollen den Leuten das Eigentum wegnehmen und da haben die meisten Dörfler allerhand zu verlieren, meinen sie. Radaukommunisten nennt man sie auch, obwohl sie im Dorf noch niemals Radau gemacht haben. Drei sollen es sein, sagt Mutter Emma, weiß aber nicht, wer es ist; es wird nur etwas vermutet. In Reddelich gibt es keine Polizeiposten. Wozu auch, hier wohnen nur ehrliche Leute, Polizei braucht man nur in der Stadt. Deshalb ist der Gendarm aus Kröpelin auch für Reddelich mit zuständig. Und so kommt eines Tages der Gendarm Karnetz mit dem Fahrrad ins Dorf, begleitet von seinem Polizeihund. Polizei im Dorf! Das ist etwas besonderes und spricht sich schnell herum! Überall stehen Leute und wollen nichts verpassen. Nach einem kurzen Besuch beim Bürgermeister begibt sich der Gendarm auf den "Kurfürstendamm", so nennen die Dörfler eine Straße an der "Bessere" Häuser stehen. Und ausgerechnet auf dem Kurfürstendamm holt Wachtmeister Karnetz den Paul Velker ab, der dort ein Haus hat. Alle Leute sehen, dass Velker Handschellen angelegt bekommt und abgeführt wird. Er trottet brav neben Karnetzens Fahrrad her. So einfach ist das damals! Heute würde man dafür ein ganzes Polizeikommando einsetzen. Der Paul, ist das nun einer von den Kommunisten? Eigentlich hätte man das nicht gedacht. Es heißt auch, er hätte irgendwas geklaut. Aber das ist doch fast dasselbe, denn Kommunisten klauen natürlich auch. Es wird noch ein wenig geklatscht, dann gehen alle wieder an ihr Tagewerk.
Kurze Zeit später hat Erich noch ein zweites Erlebnis mit der Polizei. Die neue Postzustellerin, eine Frau aus dem Nachbarort Steffenshagen, wird dabei erwischt, wie sie Feldpostpäckchen öffnet und plündert. Das muss natürlich bestraft werden, und Frau Gertasch wird auch verhaftet. Diesmal ist es nicht so spektakulär, sondern geht unbeachtet vor sich. Gendarm Karnatz kommt kurz darauf aber nochmals ins Dorf und muss unter anderem auch Vater Heinrich verhören: Man kennt sich natürlich, und so bleibt der Gendarm zum Abendbrot. Für Erich ein besonderes Erlebnis. So nahe hat er noch keinen Polizisten gesehen, und der hat sogar sein Koppel mit der Pistole und den Tschako abgelegt. Es wird viel geredet, aber Erich prägt sich nur folgenden Wortwechsel ein: Vater Heinrich: »Was wird die G. denn für eine Strafe erhalten?« Darauf Gendarm Karnatz: »Mindestens mehrere Jahre Zuchthaus, oder aber«, er machte das Zeichen des "Kopf ab". So streng sind damals die Bräuche.
Die Aufregung hört nicht mehr auf. Mutter Emma hat einen Onkel in Hamburg. "Onkel Wilhelm aus Hamburg", das ist für die Dregers die weite Welt. Der Onkel war als Tischlergeselle auf Wanderschaft gegangen, hatte in Hamburg Tante Marie kennen gelernt, sie geheiratet und sich in der Hansestadt niedergelassen. Leider war die Tante bereits in den frühen 30-er Jahren gestorben, so dass Erich sie gar nicht kennen gelernt hatte. Aber der Onkel war nach dem Tode seiner Frau zu Besuch gewesen. Ein Erlebnis besonderer Art für die Dregers. Ein kleiner, gut gekleideter Herr, Homburger Hut, Stutzermantel und eine dicke goldene (oder vergoldete?) Uhrkette auf dem Bäuchlein, das war Onkel Wilhelm. Natürlich gab es auch Mitbringsel, und einige Male war man mit dem Onkel in der Dorfgaststätte und auf dem Tempelberg in Doberan, wo Vater Heinrich ja das Schlagzeug bediente. Erich bekam immer seine Limonade und der Onkel bezahlte alles aus der Westentasche mit Silbergeld. Er war eben ein Mann von Welt, der Onkel Wilhelm.
Wenige Jahre später kam es dann zu einem Gegenbesuch in Hamburg. Vater Heinrich konnte natürlich nicht weg, denn die Poststelle musste ja Weiterarbeiten. Da fuhr denn Mutter Emma allein. Das tollste aber: Sohn Erich durfte mit! Seine erste große Reise, denn bisher war er nur mal mit der Mutter in Rostock zum Pfingstmarkt gewesen. Für einen Reddelicher war das schon allerhand, so einfach nach Hamburg zu fahren. Wie macht man das, wie kommt man dorthin? Natürlich mit der Eisenbahn, eine Alternative dazu kam gar nicht in Betracht. Und so ging es eines morgens mit dem Achtuhrzug los. Der Bummelzug brachte beide nach Wismar. Dort hieß es umsteigen und es ging weiter nach Bad Kleinen. Dann wurde nochmals der Zug gewechselt, und ein Eilzug brachte sie jetzt nach Hamburg. Eifrig notierte sich Erich alle Stationen, die die Züge passierten. Zuerst waren es noch bekannte Namen: Kröpelin, dort wohnte Tante Line, dann Sandhagen, auch das ist noch bekannt, denn Tante Else und Onkel Otto haben hier einen Kolonialwarenladen und eine Gaststätte, und bei denen ist man zweimal im Jahr zu Besuch. Aber dann kommt schon Neuland. Von einigen Orten hat man noch gehört, aber gewesen ist man dort noch nicht. Das wird noch spannender als die Orte größer werden: Grevesmühlen, Schönberg, Lübeck, Bad Oldesloe und dann endlich Hamburg. Da wird man aber was zu erzählen haben, wenn man wieder zu Hause ist.
Onkel Wilhelm empfängt die Verwandten natürlich auf dem Hamburger Hauptbahnhof und führt sie zu seiner Wohnung in der Luruperstraße. Dazu muss man mit der U-Bahn fahren: Eine Bahn, die unter der Erde fährt! Erich kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Onkel Wilhelm ist inzwischen Rentner, hat sich in seiner Küche aber eine kleine Schusterwerkstatt eingerichtet und verdient sich ein kleines Zubrot. Ein guter Tischler kann eben auch schustern. Für Erich ist das alles höchst interessant und er sieht dem Onkel bei der Arbeit zu.
Wer in Hamburg weilt, muss natürlich auch etwas von der Stadt sehen. Der Onkel führt seinen Besuch dazu in Hagenbecks Tierpark, man bestaunt den alten Elbtunnel, macht eine kleine Schifffahrt auf der Elbe (oder auf der Alster?) und besucht schließlich auch noch den Botanischen Garten "Planten und Bloomen". Wieder ist der Onkel der spendable Mann, zu dem Erich mit Respekt aufsieht.
Der Hamburg-Besuch geht aber nur über wenige Tage. Mutter Emma wirtschaftet in des Onkels Wohnung herum und macht mal wieder richtig "Ordnung". Sie wird aber von Tag zu Tag immer unruhiger, denn sie muss doch zurück und sich um ihr Vieh kümmern. "Ob denn der Heinrich wohl damit zurecht kommt?" So geht es denn nach wenigen Tagen zurück, und der dörfliche Alltag nimmt unsere Weltreisenden wieder auf. Erich berichtet seinen Freunden von seinen Hamburger Erlebnissen, in denen der Onkel eine besondere Rolle spielt und in denen er sich natürlich auch in den Mittelpunkt stellt.
So, jetzt sind wir wieder im Jahr 1941 oder 42. Der Krieg tobt in Russland, und die Engländer und Amerikaner beginnen ihre Luftangriffe auf deutsche Städte. Mehrfach wird auch Hamburg als Bombenziel dieser Angriffe genannt. Mutter Emma macht sich deshalb Sorgen um Onkel Wilhelm. Sie rückt mit dem Plan heraus, den Onkel nach Reddelich zu holen, damit er seine letzten Lebensjahre hier verbringen kann. Vater Heinrich ist zwar davon nicht begeistert, gibt aber schließlich nach, denn man rechnet damit, dass der Onkel ja auch noch etwas mitbringt: Hausrat, Wäsche und natürlich Geld und seine Rente. Auch seine handwerklichen Fähigkeiten kann man in der kleinen Wirtschaft gut gebrauchen. Ein kleines Zimmer steht für den Onkel auch bereit. Es ist zwar sehr klein, aber am Tage kann Onkel Wilhelm ja in der Wohnstube sitzen und im Sommer ist man sowieso den ganzen Tag draußen. So fährt Mutter Emma wieder nach Hamburg, diesmal aber allein, löst den Haushalt des Onkels auf, regelt die Abmeldeformalitäten und trifft schwer beladen mit dem Onkel wieder ein.
Mit dem Hamburger zieht jetzt auch anderes und neues Gedankengut bei den Postleuten ein. Er war als Tischlergeselle in der Holzarbeitergewerkschaft und bringt linke Ansichten mit. In seinen jungen Jahren hat er in der Weimarer Republik auch an Streiks teilgenommen und auch andere Gewerkschaftsarbeit geleistet. Er hat gelernt, den Dingen des Lebens kritisch gegenüber zu stehen und er mischt sich in die Politik ein. Er behauptet zu wissen, dass der Krieg bereits verloren ist und die Nazis vor dem Ende stehen. Das hat bisher noch keiner so deutlich gesagt! In der Poststube wird zwar auch getuschelt und gezweifelt, der eine will dies und der andere das gehört haben, aber insgesamt ist man immer vom "Endsieg" überzeugt. Wilhelm Reinecke ist da ganz anderer Ansicht. Die Nazis sind Verbrecher, sagt er, der Hitler ein dummer Emporkömmling, und das ganze System zum Untergang verurteilt. Mutter Emma beschwichtigt ihn, er soll seine Meinung haben, aber sie nicht so offen sagen. Da ist schon was dran, denn Erich erzählt seinen Freunden vom Inhalt dieser Gespräche und man kommt zu der Schlussfolgerung, dass der Onkel ein richtiger Kommunist ist. Aber er macht ja keinen Radau, und viele Jungs haben ihn noch gar nicht gesehen. Also ist er vielleicht doch kein richtiger Kommunist? Da keiner richtig weiß, wie ein Kommunist aussieht, geht man zur Tagesordnung über.
Die Tagesordnung besteht in diesen Wochen und Monaten aus dem Dienst im Jungvolk – wo immer mehr Kriegsspiele auf dem Plan stehen – und aus dem Schulbesuch. Daneben verfolgt man die täglichen Wehrmachtsberichte und wartet auf neue Siegesmeldungen. Vor allen Dingen werden "Helden" gesucht. Major Werner Mölders ist so einer. Als Jagdflieger hat er viele feindliche Flugzeuge abgeschossen. Er wird vom Führer mit hohen und höchsten Auszeichnungen geehrt. Wer möchte nicht auch so ein kleiner Mölders ein? Oder Korvettenkapitän Günter Prien, der mit seinem U-Boot in den feindlichen Flottenstützpunkt Scapa Flow eindrang und zwei Schlachtschiffe des Gegners versenkte. Bei ihren Spielen schlüpfen die Jungs in den Mantel dieser Helden. Bewundert wird auch, dass der Führer nach dem siegreichen Frankreich-Feldzug zwölf Generalfeldmarschälle ernennt. Das konnte sich bisher in Deutschland weder ein Kaiser noch ein König leisten. In der Vergangenheit gab es immer nur einen oder zwei Marschälle, ob Blücher, Hindenburg, Moltke usw. Nachdem Lehrer Kittmann, der gleichzeitig Ortsgruppenleiter der NSDAP in Bad Doberan ist, das verkündet hat, lernen die Jungen die Namen der Feldmarschälle auswendig, und der eine ist nun Brauchitsch und der andere Keitel. Zu den Helden gehört auch Marschall Rommel, der das Afrikakorps führt und begeistert singt man "Panzer rollen in Afrika vor".
Bei Herrn Kittmann, der häufig in seiner gelben Uniform zum Unterricht erscheint, haben die Schüler das Fach Geschichte. Die alten Germanen, deutsche Kaiser und Könige sind wichtige Themen. Vor allem muss man viele Jahreszahlen lernen, wann welche Schlacht war, von wann bis wann welcher Kaiser auf dem Thron saß usw. Aber die Schüler werden pfiffig: Herr Kittmann betritt das Klassenzimmer mit einem zackigen »Heil Hitler, setzen«. Sofort gehen einige Hände in die Höhe. »Na was ist Dreger?« »Herr Kittmann, gestern Abend ist eine Sondermeldung gekommen, dass unsere Truppen Smolensk eingenommen haben, soll ich mal auf der Landkarte zeigen wo das liegt?« Und schon ist Lehrer Kittmann in seinem Element. Die Landkarte wird entrollt, Erich zeigt wo Smolensk liegt, andere Schüler zeigen andere Orte die eingenommen
wurden, und Lehrer Kittmann spricht schließlich die ganze Stunde nur über den Krieg. Für die Schüler ist die Geschichtsstunde damit "gerettet". Kittmann hat nicht nach Kaiser Barbarossa gefragt und alle bekommen trotzdem eine gute Zensur.
Eines Tages erhalten die Postleute eine gute Nachricht: Sohn Ulrich ist wieder in Deutschland! Er hat es inzwischen bis zum Schreibstubenunteroffizier gebracht, und ist aus irgendeinem Grund zu einer Einheit am Bodensee versetzt worden. Damit ist endlich die Warterei auf die Feldpost vorbei. Die Briefe, die vom Bodensee kommen, tragen zwar auch die Bezeichnung "Feldpost", aber das ist doch etwas anderes, als wenn man Post aus dem Osten erwartet. Nun dauert es auch gar nicht lange und der Ulrich kommt auf Urlaub. Für einige Tage ist er zu Hause. Er verkündet stolz, dass er sich seinen Urlaubsschein selbst ausgeschrieben hat, denn er ist ja Schreibstubenunteroffizier. Mutter Emma ist glücklich und Erich bewundert seinen großen Bruder, ob seinen Unteroffizierslitzen und der Ostmedaille oder "Gefrierfleischmedaille", wie sie der Volksmund auch nennt. Ulrich macht allerdings nicht den Eindruck, als ob er sehr gefroren hätte, aber er war ja auch in der Schreibstube. Er ist eben schon etwas "Besseres". Er bringt auch seine Verlobte mit. Lotti, ein Mädchen aus Parchim, die sehr schnell Erichs Herz gewinnt und in die Familie aufgenommen wird.
Für Erich beginnt jetzt bald das letzte Schuljahr. Es wird Zeit darüber zu sprechen, was er denn nun werden soll. Auf jeden Fall auch etwas "Besseres". Sohn Ulrich hat in Rostock bei einem Gerichtsvollzieher gelernt. Das hat sich ja auch ausgezahlt. Nun muss das bei Erich auch eingeleitet werden. Der "richtige" Postmeister (Vater wird ja im Dorf nur so genannt) hat seinen Sitz in Bad Doberan. Dort ist das Postamt. Herr Bünger kommt von Zeit zu Zeit zur Revision in die Poststelle. In den Kriegsjahren kommt er besonders gern, denn bei Dregers gibt es immer was zu Essen, und zumeist auch noch ein kleines Mitbringsel für die Frau Gemahlin: eine Wurst, ein Schälchen Butter oder ein Stück Speck. Das ist inzwischen in Deutschland Mangelware und wird auf Lebensmittelkarten zugeteilt. Deshalb werden die kleinen Aufmerksamkeiten dankbar angenommen. Anlässlich eines solchen Besuches wird dann auch abgesprochen, dass Erich die Laufbahn bei der Post einschlagen wird. Man befragt ihn dazu gar nicht erst, denn es gilt als selbstverständlich, dass er in die Fußstapfen seiner Eltern tritt. "Postjungbote" heißen die Lehrlinge bei der Post jetzt und der erfolgreiche Lehrabschluss öffnet ihnen die Tore für die spätere Beamtenlaufbahn.
Im letzten Schuljahr muss Erich zu Konfirmandenstunde. Man geht zwar kaum in die Kirche, aber schließlich ist man Christ. Deshalb ist es völlig selbstverständlich, dass auch Erich dahin gehen muss. Also einmal in der Woche mit dem Fahrrad nach Steffenshagen, denn Reddelich hat keine Kirche und demzufolge auch keinen Pastor. Den Konfirmanden wird das Neue Testament gelehrt, die zehn Gebote und andere biblische Themen. Auch der Pastor grüßt mit "Heil Hitler" und so sehr unterscheiden sich die Kirchenstunden nicht vom Schulunterricht.
So vorbereitet, findet 1943 die Konfirmation statt. Sie wird für Erich zu einem Höhepunkt in seinem jungen Leben. Nicht wegen dem Zeremoniell in der Doberaner Kirche, sondern weil sich zum ersten Mal alles um ihn dreht. Er bekommt einen Anzug mit langen Hosen, einen neuen Mantel mit Fischgrätenmuster und sogar einen Hut. So eingekleidet dreht und wendet er sich vor dem Spiegel: "Gentleman Erich". Wie kommt er auf diesen Namen? Vor kurzem hat er ein Heft aus der Kriegsbücherei gelesen: "Hände hoch, Gentleman!". Daher weiß er, dass Gentleman ganz feine englische Herren sind. Bruder Ulrich kommt mit seiner Lotti und die Eltern ziehen ihren Sonntagsstaat an. So machen sich alle auf nach Doberan in die Kirche. Nach einer Stunde ist Erich konfirmiert und hat das Abendmahl bekommen. Alle Konfirmanden warteten auf den Wein, der zum Abendmahl gereicht wird. Aber sie sind enttäuscht. Der Pastor hat Übung darin und so benetzt er nur ihre Lippen. Das Wesentliche ist aber, dass Erich nun in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen ist.
Nachmittags beginnt dann die große Familienfeier, die viele Leute vereint. Die Onkel und Tanten aus Kröpelin, Doberan, Heiligendamm und Sandhagen treffen ein und bringen Geschenke mit. Von den Dorfbewohnern werden viele Glückwunschkarten abgegeben. Der Tisch ist trotz Krieg reichlich gedeckt und für die Erwachsenen gibt es Bier, Korn und auch einen Likör für die Damen. Auch Postmeister Bünger erscheint mit Gattin und will sich den Schmaus nicht entgehen lassen. Erich erhält von ihm sein erstes Buch geschenkt: "Zwischen sieben Toren", ein Rostock-Roman. Als Widmung hat der Postmeister geschrieben: "Dem angehenden Stephansjünger Erich Dreger alles Gute zur…" Was ist denn das? Bin ich jetzt ein Stephansjünger? Zunächst tun alle so, als wüsste man was das ist. Aber am nächsten Tag wissen auch die Eltern nichts mit dem Namen anzufangen. Die Mutter meint, es sei sicher etwas Biblisches, damit ist man immer fein raus. Später erst erfährt man, dass Heinrich von Stephan der erste Generalpostmeister in Deutschland war. Also gewissermaßen ein großes Vorbild für Erich, dem er nacheifern soll.
Aber vorerst sind wir noch bei seiner Konfirmation. Er ist zwar jetzt in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen, aber das klappt nicht so richtig. Die Onkel und Tanten haben viel zu erzählen und zu tratschen. Das interessiert den "Neuerwachsenen" aber nicht. Ihn zieht niemand ins Gespräch. Es bietet ihm auch niemand ein Glas Bier an, und auf sein Wohl wird nicht getrunken. Das ist enttäuschend und so begibt sich Erich wieder auf die Straße zu seinen Freunden, die zu Hause ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Das passt aber Mutter Emma nicht, und kurzerhand beordert sie ihn wieder zurück. »Es ist doch hier alles nur für Dich.« Das findet Erich nun wieder nicht, aber er begibt sich in die Wohnstube und befasst sich mit seinem neuen Buch.
Lesen gehört schon seit Jahren zur Hauptbeschäftigung. Gemütlich in einen Wohnzimmersessel gekuschelt, kann Erich sich stundenlang mit einem Buch beschäftigen. So lernt er zunächst viele Helden aus Indianerbüchern kennen und gelangt natürlich auch bis zu Karl May. Old Shatterhand, Winnetou und Hadschi-Halef-Ben-Omar werden zu Heldengestalten. Zu seiner Lektüre gehört aber auch Erich Kästners "Emil und die Detektive". Auch zu Hans Dominik und seinen utopischen Romanen findet er Zugang. Auf dem Boden hat er auch noch mehrere dicke Bände einer "Bücherei für Militäranwärter" gefunden und darin geschmökert. Daneben noch ein "Realienbuch", das den Leser die Geheimnisse der Naturwissenschaften erschließt. Diese Literatur lässt Erich bereits ahnen, dass es auf der Welt mehr gibt als Reddelich, Rostock und Hamburg und mehr als das, was Jungvolk, Schule und Konfirmation bisher offenbart haben. Verschlungen werden natürlich auch die vielen Monatshefte der Kriegs- und Abenteuerliteratur. Mit der "Kolonialbücherei" erfährt er von Karl Peters, Lettow-Vorbeck und den Helden der Moraberge. Die "Kriegsbücherei" schildert Episoden aus den eben ablaufenden Weltkrieg. Verschiedene Erlebnisreihen stellen Supermänner (diesen Begriff kennt er damals noch nicht) wie Tom Shark, Rolf Torring, Frank Faber und Sun Koh den Rächer der Enterbten vor.
Die genannten Bücher sind aber nicht sein Eigentum. Seine Eltern und sein großer Bruder haben nur wenig Literatur angeschafft. Neben der "Nibelungensage" und den "Skalpjägern" ist da nicht viel zu finden. Den Lesestoff erhält er von Schulfreunden geliehen. Jetzt hat Erich nun aber ein eigenes Buch über Rostock. Es wird über etwas geschrieben, was er selber ein wenig kennt: Über die Stadt und über eine Gruppe von Jungen, die ihr Leben und ihre Streiche in der Stadt austoben. Hier sind nicht irgendwelche Gestalten die Helden, sondern Kinder, wie er selbst eins ist. Auf dem Gabentisch liegt noch ein zweites Buch: "Tull Harder stürmt für Deutschland". Es handelt vom Fußball in Hamburg und ist offenbar von Onkel Wilhelm geschenkt worden. Auch dieses Buch ist für Erich höchst interessant. Hamburg glaubt er auch zu kennen und Fußball spielt man natürlich in Reddelich auch. Also zwei neue Bücher, die fassbare Realität behandeln und die ganz neue Inhalte erschließen. Und wichtig ist weiter, dass sie sein Eigentum sind. Er schreibt seinen Namen hinein und legt sie in den Schrank. Noch nicht ahnend, dass er einmal viele hundert Bücher besitzen wird.
Mit der Konfirmation soll der erste Lebensabschnitt unseres Helden beendet sein. Was wird der nächste bringen?